Wanderung zur Trutzburg

So nennt der Psychiater Reinhard Haller den Hausberg des Bregenzerwaldes, die Kanisfluh. Auf seiner Wanderung erklärt er, warum Wandern ein besonderes Mittel und die beste Vorbeugung gegen psychische Belastungen, ja Erkrankungen, bietet.

Die kontinuierliche Bewegung in der freien Natur fördert Selbstbewusstsein und Gesundheitsdisziplin. Auch führt sie zu besserer Stressresistenz und mehr Gelassenheit.

„Nichts flößt so viel Ehrfurcht ein wie der Anblick von Bergen.“ Das hat der frühere UNO-Generalsekretär Kofi Annan gesagt. Es fällt mir immer ein, wenn ich die Kanisfluh sehe, diesen grandiosen Berg, einen der schönsten der Alpen. Von den Dörfern an ihrem Fuß aus betrachtet, ist sie eine mächtige Schutz- und Trutzburg. Draußen im Tal wirkt sie wie eine Wächterin über die ganze Region und von der Ferne aus präsentiert sie sich als stolze Exponentin der Alpen.

Die Kanisfluh und ihre vielen verschiedenen Gesichter Kaum ein Berg ist menschenähnlicher: mit einem wuchtigen Haupt, dem Stoß, das der fast unscheinbar im Hintergrund liegenden Spitze die Show stiehlt. Mit breiten Felsschultern, die den Menschen unten Stärke und Unerschütterlichkeit vermitteln. Mit sich schutzmantelartig über das Tal ausbreitenden Abhängen, Halden und Fluhen, die Sicherheit und Geborgenheit verheißen. Mit Klüften und rippenartigen Falten, mit der sagenumwobenen Wirmsäule und einer mächtigen Basis. Das Erstaunliche aber sind die völlig unterschiedlichen Gesichter der Nord- und der Südseite: Kolossal, jäh und rau gegen den Vorderwald. Leicht, luftig und eher wie eine Kathedrale, wenn man sie von den Dörfern des hinteren Bregenzerwaldes aus betrachtet. Jeder, der die Kanisfluh sieht, fühlt sich fasziniert, jeder möchte sie einmal besteigen.

Wandern als Gegenmittel gegen Stress, Burnout und Demenz

Landschaften prägen die Menschen, und wo könnte das Wandern schöner sein als in einem so geheimnisvollen, mythologischen und heilsamen Gebirge? Wandern hat einen enormen gesundheitlichen Effekt – und Bergwandern erst recht. Die positiven körperlichen Auswirkungen, von Stärkung des Herz-Kreislauf-Systems über Regulierungen des Fett- und Zuckerstoffwechsels bis zur Verbesserung der Immunabwehr reichend, sind ja bestens erforscht. Könnte man eine Tablette entwickeln, die alle krankheitsvorbeugenden und heilenden Kräfte des Ausdauersports Wandern in sich vereinigte, wäre sie der pharmakologische Megaseller schlechthin. Erst in jüngerer Zeit beschäftigt sich die Wissenschaft mit den Wirkungen des Wanderns auf die Psyche und bringt noch erstaunlichere Resultate: Wer wandert, kann Altersdemenz im besten Fall um Jahre verzögern. Wandern ist ein Antidepressivum ersten Ranges und eines der besten Mittel zur Verhinderung des Burnout, der Krankheit unserer Zeit. Es lehrt uns die Kunst des meditativen Versenkens viel leichter, effektiver und billiger als ein indischer Guru. Das kontinuierliche Bewegen in freier Natur fördert Selbstbewusstsein und Gesundheitsdisziplin, es führt zu besserer Stressresistenz und mehr Gelassenheit. Man muss nur eine gute Sensibilität für seinen körperlichen und seelischen Organismus entwickeln und in sich hineinhorchen. Dann erspürt man all diese Effekte und noch einige mehr.

Beim Wandern auf der Kanis zum eigenen Atem kommen

Den ersten steilen Anstieg ersparen wir uns und schweben mit der Bergbahn über den Waldgürtel auf die Roßstelle. Dort, im märchenhaften Bergwald, waren in meiner Kindheit noch Rübezahl und nach erster winterlicher Verzuckerung das Christkind zu Hause. Wir wandern hinein, über Wege und Stege, in den Talkessel der Alpe Kanis. So stellt man sich eine Farm in Kanada vor. Wäre das nicht eine grandiose Kulisse für einen Wildwestfilm? Weiter geht es durch Föhren und Bergblumen, vorbei an der Wurzacher Alphütte, die uns jetzt schon mit der Aussicht auf Rast und Stärkung auf dem Rückweg lockt. Nirgendwo klingen die Kuhglocken so sommerlich wie hier, da ist das Klischee von saftigen Alpwiesen und glücklichen Kühen erfüllt. Jetzt fühlen wir uns entspannt, wir lassen Stress und Ärger hinter uns, wir werden frei. Ist das nicht Luft-, Licht- und Farbtherapie in einem? Dann der Anstieg, nicht gefährlich, aber lang und heiß. Nunmehr wäre Kondition gefragt. Da hilft der Gedanke an Menschen, die verzweifelt um ihr Leibgefühl kämpfen, weil sie ihren Körper nicht mehr spüren. Dem schwitzenden, keuchenden Wanderer mit vor Anstrengung gerötetem Kopf und schmerzenden Muskeln ist seine Leiblichkeit durch und durch bewusst, da braucht es keine Therapie. Ob wir nun wollen oder nicht, spüren wir doch endlich wieder das Atmen als intensivste aller Körperfunktionen, können durch das tiefe Luftholen innere Blockaden lösen, und negative Emotionen hinauspusten. Als wir die Höhe erreichen, den Bergkamm der Holenke, stellt sich ein erstes Hochgefühl ein. Schlagartig hat sich die Kulisse geändert, der Blick in die Weite gibt ein Gefühl der Freiheit, ja einer gewissen Erhabenheit – und auch der Sehnsucht. Unten liegen die „Dörfle der Reihe nach“, wie es im Lied heißt. So nah ist der Bodensee, der Panoramablick schweift auf die Tiroler Alpen, über die trotz Gletscherschwund noch weißen Schweizer Berge und weit hinaus ins deutsche Land. Der letzte, nur scheinbar kurze Anstieg ist ein Hund. Er zieht und zieht sich, die Luft wird dünner, manche packen hier den Rucksack aus. Jetzt braucht man Willen und inneren Dialog. Jetzt bauen wir aber auch am meisten Aggressionen ab und steigern die Produktion von Glückshormonen. Am Gipfel sind alle stolz, sie gratulieren sich: passionierte Berggeher, Wandergruppen, ganze Familien und Kinder, die das erste große Bergabenteuer bestanden haben. Einen 2000er – sie werden es ein Leben lang nicht vergessen.

„Ich habe mir meine besten Gedanken ergangen“

Auf dem Rückweg will der Fotograf schlechten Gewissens ein paar Aufnahmen mit einer Drohne machen. Es sei das neueste Modell und ganz leise. Der sofort erfolgende Protest von Wanderern, Ruhesuchenden und Erholungsbedürftigen besagt eindrucksvoll, wie sehr unberührte Natur und himmlische Ruhe von der gestressten Gesellschaft gesucht werden. Ein Wahnsinn, wenn man an den abgewehrten Plan denkt, den „heiligen Berg“ mit einem Steinbruch zu zerstören und die wundervolle Stille für dreißig Jahre zu vertreiben. Bei einem jetzt zu Recht als „wohlverdient“ bezeichneten Bier hören wir das Lachen der am Bergbach spielenden Kinder und sehen die Urlauberfamilien, die in der Flusslandschaft ein Paradies gefunden haben. Unwillkürlich spürt man angesichts des glasklaren, sprudelnden Wassers und der sich im Sommerwind wiegenden Gräser und Bäume ein wenig Mitleid mit denen, die sich am heißen, ausgedörrten Mittelmeerstrand langweilen müssen. In der Abendsonne im Tal angekommen, wird es noch einmal philosophisch, mit einem Gedanken Kierkegaards: „Ich habe mir meine besten Gedanken ergangen und kenne keinen Kummer, den man nicht weggehen kann.“ Und als ich, wieder vom Alltag eingeholt, meine Praxis betrete, muss ich unwillkürlich bekennen: „Natur und Wandern haben viele psychotherapeutische Funktionen – nicht weil ich von der Psychotherapie, meinem Beruf, so wenig, sondern weil ich vom Wandern so viel halte.“

Autor: Reinhard Haller

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Respekt für Naturwunder Kanisfluh gefordert

Die Betreiberfirma des verharmlosend als Kiesabbau bezeichneten Kanisfluh Schädigungsprojekts überschüttet die Bevölkerung mit Informationen, die man nicht stehen lassen kann. Da wird die Notwendigkeit dieser als „regionale Weiterentwicklung“ schöngeredeten Naturzerstörung mit Baumaßnahmen begründet, die bis zum geplanten Beginn samt und sonders abgeschlossen sind. Die bei anderen Steinbrüchen ermittelte Eigenbedarfs-/Exportquote von 1:7 wird einfach umgekehrt. Würde man die abenteuerlichen Zahlen zum Kiesbedarf in der Region ernst nehmen, stellten sie eine weitere massive Drohung dar, nämlich das Zubetonieren von Schnepfau, Hirschau und Mellau mit 2880 Betonbauten. Und mit der irrealen Auslegung von Statistik-Austria-Daten will man uns Bregenzerwälder offensichtlich für dumm verkaufen. Den Gipfel der Verniedlichung bildet eine Fotomontage, in welcher der monströse Steinbruch als blühender Terrassengarten dargestellt wird.

Weniger informationsfreudig ist die PR-Abteilung der Betreiber, wenn es um die Jagdgründe der Unternehmerfamilie auf der andern Seite der Kanisfluh geht. „Eigenes Jagdvergnügen und Ruhezonen für die Tiere, Lärm und Dreck für die Einwohner“ wäre tatsächlich keine gute Werbebotschaft.

Von denen, die über dieses feudalistische Wahnsinnsprojekt entscheiden, ist jedenfalls zu verlangen, dass der in einer großen Regierungskampagne für das Wild geforderte Respekt auch dem Naturwunder Kanisfluh, der von unseren Ahnen ererbten Vorsässkultur und den hier lebenden Menschen entgegengebracht wird.

Prim. Univ.-Prof. Dr. Reinhard Haller,
Maria Ebene, Frastanz

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VN Leserbrief

Prim. Dr. Reinhard Haller

Für einen naturverbundenen Vorarlberger, gebürtigen Mellauer und Besitzer eines Engevorsäßes ist es nicht fassbar, dass ein Kiesabbauprojekt dieser Art auch nur angedacht wird. Unter den von den Gemeinden Schnepfau und Mellau vorgebrachten Bedenken seien folgende hervorgehoben: Es wird das nach Schönenbach schönste, ursprüngliche Vorsäßen­semble zerstört.

Das Naherholungsgebiet zweier Dörfer, der zentrale Teil des Radwanderweges Hinterwald und der Langlaufloipe werden für eine Generation vernichtet. Einem der schönsten Berge des Alpenraumes, der mystischen Kanisfluh, wird eine unheilbare Basiswunde zugefügt. Der Angriff richtet sich gegen Vorsäßkultur, heile Landschaft, Tourismus und Lebensqualität unserer Bregenzerwälder Landsleute, die über die Monströsität gar nicht informiert sind. Widerstand bedeutet keine Wirtschafts- oder Industrie­feindlichkeit.

Neben der Kieswirtschaft gibt es eine Agrar-, Wald-, Jagd-, Freizeit- und Tourismuswirtschaft, deren Interesse viel mehr Menschen betrifft. Zudem ­toleriert Schnepfau jetzt schon zwei Steinbruchbetriebe, hat Mellau über Jahrzehnte Kies für das ganze Land geliefert und werden im Projektgebiet bereits zwei kleinere Abbaubetriebe toleriert. Die Argumente der Betreiber können nicht überzeugen: Weder ist im Hochland des Holzbaus der Betonnotstand ausgebrochen noch sind 7000 Kiesfahrten in 30 Jahren zu 200 pro Tag verhältnismäßig.

Wenn die entscheidenden Behörden Landschafts- und Menschenschutz ernst nehmen, kann es nur eine Antwort geben: Die rote Karte bereits im Vorfeld.

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